Das Aquarell „Chioggia“ aus dem Jahr 1924, signiert von der österreichischen Malerin Norbertine Bresslern-Roth (1891–1978), ist ein sehr stimmungsvolles Beispiel ihres Schaffens in den 1920er Jahren. Obwohl sie vor allem für ihre Tierdarstellungen und ihre meisterhafte Druckgrafik bekannt ist, zeigen Werke wie dieses, dass ihr künstlerisches Repertoire weit darüber hinausging.
1. Motiv und Komposition
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Darstellung eines venezianisch anmutenden Motivs
– Der Titel „Chioggia“ verweist auf das gleichnamige, an der Adria gelegene Städtchen südlich von Venedig. Die enge kulturelle und architektonische Verbindung zu Venedig spiegelt sich in vielen malerischen Details wider.
– Im Vordergrund erkennt man ein dekoratives Monument oder eine Statue, überdacht von einem kunstvoll geschmiedeten Metallaufsatz, der an einen Lampenschirm oder Pavillon erinnert. Ein historisches Geländer mit Balustraden und einer Wappen-Kartusche unterstreicht das barocke oder frühneuzeitliche Flair.
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Farbgebung und Lichtstimmung
– Als Aquarell zeichnet sich das Werk durch die für Wasserfarben typische Leichtigkeit aus. Weiche Übergänge zwischen Hell und Dunkel sowie lasierende (durchscheinende) Farbschichten betonen die filigrane Architektur und Ornamentik.
– Die von Bresslern-Roth gewählten, eher gedeckten Töne (Braun-, Beige- und Grauabstufungen) erzeugen eine ruhige, beinahe melancholische Atmosphäre, wie sie für historische Stadtansichten in der Dämmerung oder bei bewölktem Himmel typisch ist.
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Komposition und Bildaufbau
– Das Hauptmotiv (Statue mit Laternenaufsatz) nimmt den linken Bildbereich ein. Durch die Anordnung im Hochformat entsteht ein konzentrierter Blick auf die kunstvollen Details und den architektonischen Schmuck.
– Der Betrachter spürt gleichzeitig die räumliche Tiefe: ein Ausblick über das Geländer in Richtung Himmel, der in helleren Tönen gehalten ist. Das Motiv steht damit eindrucksvoll, aber nicht überladen im Zentrum.
2. Künstlerischer Kontext: Norbertine Bresslern-Roth
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Biografie in Kürze
– Norbertine Bresslern-Roth wurde 1891 in Graz geboren und studierte an der dortigen Kunstgewerbeschule sowie an der Akademie in Wien. Sie ist vor allem für ihre fein ausgearbeiteten Tierdarstellungen, Holzschnitte und Lithografien bekannt, die hohe Anerkennung fanden.
– In den 1920er Jahren war sie bereits eine etablierte Künstlerin, die – neben ihren druckgrafischen Arbeiten – auch Landschaften, Städteansichten und Porträts anfertigte. Dieser Blick auf Chioggia zeigt ihre vielseitige Begabung.
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Stilistische Aspekte
– Bresslern-Roth legte Wert auf eine präzise Naturbeobachtung und detailgetreue Darstellung. Dies zeigt sich auch in „Chioggia“: Jedes Ornament und die Formen des schmiedeeisernen Aufsatzes wirken sorgfältig studiert.
– Der Aquarellstil verrät eine beobachtende, realistische Herangehensweise mit feinem Gespür für atmosphärische Effekte. Dadurch unterscheidet sich das Werk von ihren populäreren, oft farbintensiveren Tierkompositionen.
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Bedeutung im Gesamtwerk
– Werke mit Motiven aus Italien oder anderen europäischen Städten waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht ungewöhnlich für Künstler aus dem deutschsprachigen Raum – Reisen in südliche Gefilde galten als Quelle der Inspiration.
– Dass Bresslern-Roth das Bild eigenhändig bezeichnet und signiert hat, unterstreicht den Stellenwert solcher Reiseeindrücke in ihrem Œuvre.
3. Technische Merkmale und Zustand
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Aquarelltechnik
– Aquarelle entstehen durch stark verdünnte, wasserlösliche Farbpigmente, die auf speziellem Aquarell- oder Büttenpapier aufgebracht werden. Diese Technik verlangt Übung und Präzision, denn Korrekturen sind nur begrenzt möglich.
– Auch die Lichtführung erfolgt überwiegend durch das „Weiß“ des Papiers, das an den hellen Stellen durchscheint.
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Signatur und Datierung
– Wie vermerkt trägt das Bild (sogar doppelt) die Signatur von Bresslern-Roth und die Jahreszahl 1924. Zusätzlich hat sie es mit dem Ortsnamen „Chioggia“ bezeichnet, was den Entstehungsort oder das dargestellte Motiv eindeutig festhält.
– Die eigenhändige Beschriftung festigt die Authentizität des Werkes.
4. Zusammenfassung
Das Aquarell „Chioggia“ von Norbertine Bresslern-Roth aus dem Jahr 1924 vereint stimmungsvolle italienische Architekturdetails und die Präzision ihrer realistischen Malweise. Der pastellfarbene Himmel, die dekorative Balustrade und die kunstvoll geschmiedete Statue im Vordergrund lenken den Blick auf eine Szenerie, die sowohl an historische Kulisse als auch an mediterranes Licht erinnert.
Für Liebhaber der österreichischen Kunst ist es ein reizvolles Zeugnis der frühen Schaffensphase einer vielseitigen Künstlerin, die neben Tierdarstellungen auch Landschaften und Stadtansichten in hoher Qualität anfertigte.
In der Tradition der Wiener und Grazer Malerschule der Zwischenkriegszeit nimmt dieses Aquarell eine besondere Stellung ein, da es eine Brücke schlägt zwischen Bresslern-Roths bekanntem Tiermotiv-Repertoire und einer fein beobachteten Architektur- bzw. Reiseszene. Somit ist „Chioggia“ gleichermaßen ein Stück Kunst- und Zeitgeschichte, das heute, bei fachgerechter Aufbewahrung und Präsentation, eine ruhige, mediterran-historische Stimmung in jeden Raum bringt.